Die Unsterblickeit der Seele
Ich bin erst 30 – und doch habe ich schon viele Menschen mit Demenz begleitet. Jede dieser Begegnungen hat mir etwas über das Menschsein beigebracht. Über die Zerbrechlichkeit des Körpers. Über die Grenzen des Verstands. Und vor allem: über das, was bleibt, wenn vieles verschwindet.
Demenz zeigt sich auf ganz unterschiedliche Weise. Manche Menschen werden sanft, fast kindlich. Andere reagieren mit Wut, Angst oder Rückzug. Manche leiden offensichtlich. Andere wirken befreit, fast glücklich. Aber eines haben sie alle gemeinsam: Auch wenn Geist und Körper sich verändern – etwas bleibt.
Es ist die Seele.
Für mich als Christin und Seelsorgerin ist die Seele der Teil des Menschen, der nicht krank wird. Der Teil, der unantastbar bleibt, auch wenn Erinnerungen verblassen und Worte versiegen. Die Seele ist für mich der Ort, an dem Gott wohnt – und sie ist unsterblich.
Wenn ich mit Menschen mit Demenz arbeite, konzentriere ich mich nicht auf das, was verloren geht, sondern auf das, was bleibt. Ich begegne nicht der Krankheit, sondern dem Menschen. Und ich glaube fest daran: Die Seele bleibt heil.
Ein Moment voller Menschlichkeit
Während meiner Ausbildung zur Fachfrau Gesundheit erlebte ich eine Szene, die mich bis heute bewegt. Eine ältere Frau mit fortgeschrittener Demenz wurde ins Krankenhaus verlegt. Die ungewohnte Umgebung brachte sie sichtlich durcheinander.
Eines Abends klingelte sie. Als ich ins Zimmer kam, stand sie am WC und putzte ihr Gebiss in der Toilette. Ein absurder Anblick, ja, doch dahinter lag echte Verzweiflung. Sie wusste, dass etwas nicht stimmte, konnte es aber nicht einordnen. Sanft nahm ich ihr das Gebiss ab, zeigte ihr das Waschbecken, das Reinigungsmittel, und half ihr, alles neu zu ordnen.
In ihrer Erleichterung lag eine stille Dankbarkeit. Ein Moment, in dem mir klar wurde: Auch wenn der Verstand nicht mehr mitkommt, die Seele fühlt mit.

Wenn die Seele singt
Während meines Theologiestudiums arbeitete ich als Seelsorgerin in einem Altenheim im Emmental. Dort lebte eine Frau, die fast vollständig in sich zurückgezogen war. Sie sprach kaum noch, saß meist still in ihrem Sessel, die Augen leer.
Eines Tages spielten wir alte Kirchenlieder. Und plötzlich, ganz leise, begann sie zu singen. Ihre Stimme war brüchig, die Worte tastend – aber sie waren da. In diesem Moment war etwas spürbar, das stärker war als die Krankheit. Die Seele fand einen Weg, sich zu zeigen.
Seitdem glaube ich noch mehr daran, dass die Seele ihre eigene Sprache spricht: in Gesten, in Blicken, im leisen Summen eines alten Liedes. Auch wenn der Kopf verstummt, das Herz erinnert sich.
Was wirklich zählt
Was zählt, wenn Erinnerungen verblassen? Wenn Namen vergessen werden und vertraute Gesichter fremd erscheinen? Nicht Wissen. Nicht Logik. Sondern Begegnung.
Ein liebevolles Wort. Ein warmes Lächeln. Eine Hand, die hält. Das sind die Berührungen, die zur Seele durchdringen – ganz ohne Worte. Und vielleicht ist es genau das, was am Ende bleibt: Dass wir einander nicht aufgeben.
Hoffnung für dich als Angehörige
Demenz fordert nicht nur die Erkrankten, sondern auch alle, die sie lieben. Es ist schwer, wenn ein Mensch nicht mehr erkennt, wer man ist. Aber , und das glaube ich zutiefst, die Seele weiß trotzdem, wer du bist.
Sie spürt Nähe. Sie erkennt Liebe. Und sie erinnert sich, nicht mit dem Kopf, sondern mit dem Herzen. Das ist für mich Trost. Und Hoffnung. Denn selbst wenn alles andere zerfällt, bleibt die Seele. Ganz. Lebendig. Und geliebt.
Über die Autorin
Simone Di Gallo, geboren 1994, ist Fachfrau Gesundheit und Theologin. Sie arbeitet als Seelsorgerin in Basel und begleitet Menschen mit Demenz seit vielen Jahren. Auf ihrem Blog kraftfuersleben.ch teilt sie Impulse für ein Leben mit Tiefe, Hoffnung und echter Menschlichkeit.
